Internationalen Bulletin No9 [DE]

Der erfolglose Putschversuch, dessen Auswirkungen noch andauern, bestimmt nicht nur die türkische Tagesordnung. Er nimmt auch an der Tagesordnung von allen kommunistischen- und Arbeiterparteien einen wichtigen Platz ein. Selbstverständlich müssen diese Ereignisse aus der Sicht des Klassenkampfes in der Türkei analysiert werden. Dieser Putschversuch berührt aber generell die Klassenkämpfe weltweit, weil er gleichzeitig das imperialistische System, den Konkurrenz und die Schwäche innerhalb dieses Systems reflektiert.

Deshalb hat das Büro der Internationalen Beziehungen versucht, die Hintergründe und Auswirkungen des Putschversuchs in 10 Fragestellungen der internationalen kommunistischen Bewegung zu erklären.

Diese sind:
    1.    Auf wessen Konto geht der Putschversuch? (Wer hat den Putschversuch zu verantworten?) (s. die Link für das Bulletin 6)
    2.    Was war die Zielsetzung des Putsches? (s. die Link für das Bulletin 6)
    3.    Hätte der Putsch Erfolg haben können? (s. die Link für das Bulletin 7)
    4.    Welchen Platz nimmt die Gülen-Sekte in der türkischen Geschichte ein? (s. die Link für das Bulletin 7)
    5.    Werden der Kapitalismus der Türkei und die bürgerliche Politik zur Normalität finden? (s. die Link für das Bulletin 8)
    6.    Ist es möglich, dass die Türkei sich in Richtung Iran und Russland orientiert? (s. die Link für das Bulletin 8)
    7.    Gibt es ein Zusammenhang zwischen NATO –Gipfel und dem Putsch? (s. unten)
    8.    Werden Erdogan und die AKP es schaffen, die wegen der Säuberung entstandene Zerfahrenheit innerhalb des Staates wieder zu reparieren? (s. unten)
    9.    Erwartet die Türkei eine islamistische, faschistische Diktatur unter der Führung von Erdogan? (s. unten)
    10.    Bietet die Türkei in diesem Zustand Chancen für die Politik der Arbeiterklasse? (s. unten)

In jedem Bulletin werden wir zwei von diesen Fragen beantworten. Falls uns andere Fragen gestellt werden, werden wir auch Antworten für sie vorbereiten.
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Das Büro für internationale Beziehungen schätzt die Perspektive der internationalen kommunistischen Bewegung hoch ein und bittet um Kommentare und Fragen, die in den weiteren Analysen mit berücksichtigt werden sollen. Schreiben sie bitte uns an: [email protected]

7- Gibt es ein Zusammenhang zwischen NATO –Gipfel und dem Putsch?
Es wurde gefragt, ob es eine Beziehung zwischen dem NATO-Gipfel, der eine Woche vor dem Putsch am 8./9. Juli  in Warschau stattfand,  und dem Putsch gäbe.
Der NATO-Gipfel hing indirekt mit dem Putsch zusammen. Die Stationierung der NATO-Soldaten in ehemaligen sozialistischen Ländern, die in Rumänien aktiv betriebenen Raketen-Basen, die Sicherheitsgarantien für die Nicht-NATO-Staaten Finnland und Ukraine stellen eine Provokation und enorme Bedrohung gegenüber Russland dar.
In so einer Situation musste die Türkei als treue Partner in der NATO und als ein verlässlicher Frontsoldat gegenüber Russland erhalten werden. Den Putsch losgelöst von dieser Entwicklung zu betrachten wäre ein Fehler.
Aber die Pläne sind gescheitert und die zweitstärkste Armee der NATO verlor ein Drittel ihrer Führungskräfte, so als wäre Krieg gewesen.
Obwohl viele von einem US-Putsch sprechen, fordert nur die KP (Türkei) den Austritt aus der NATO, und dies bietet zurzeit ein großer Vorteil für die Arbeiterklasse.

8- Werden Erdogan und die AKP es schaffen, die wegen der Säuberungen entstandene Zerfahrenheit innerhalb des Staates wieder zu reparieren?

Es war bisher eine weit verbreitete Meinung, dass die staatliche Strukturen unter AKP-Regierung ausgebaut und das Diktatur institutionalisiert wurde. Baer das Diktatur und die Islamisierung waren gleichzeitig die Anzeichen einer systematischen Krise. Es war ersichtlich, dass die bürgerliche alte Republik immer mehr zerfiel aber auch die Bemühungen der AKP eine islamistisch faschistoide Apparat zu installieren seit den Wahlen im Jahre 2011 ins Wanken gerieten. Diese Krise brachte die erste Massenproteste im Jahre 2013 hervor. Auch wenn die AKP in folgenden Jahren Wahlerfolge feiern konnte, die seitherige Periode kann man unter 2 Überschriften zusammenfassen, Spaltung der Gesellschaft und Verlust der Überzeugungskraft.

Dieses Bild wurde sowohl in wirtschaftlichen wie auch im ideologischen Bereich sichtbar aber am klarsten war es an ihre schwindenden Macht zu betrachten. AKP wird seit langem in einem Atemzug mit Mängeln bei Regierungsarbeit genannt. Die sichtbaren Defizite der Mächtigen im Regieren sind typische  Zeichen einer Krise. Soweit innerhalb des Systems keine Lösungen für diese Krise erfolgten begann der Zerfall der staatlichen Strukturen. Dieser Zerfall wurde nun mit den Ereignissen vom 15. Juli für alle sichtbar.

Die Tatsache, dass der Putsch scheiterte,  bedeutet nicht, dass AKP unter Führung von Erdogan das System konsolidieren kann.

Dieses Erkenntnis basiert auf den Tatsachen:

dass erstens diese Krise sehr viel tiefgreifender ist, als dass man diese auf eine blutige Abrechnung von zwei bisher verbündeten, politisch wie ideologisch identischen Bewegungen reduziert werden kann. Diese Systemkrise ist an den komplizierten gesellschaftlichen Dynamiken begründet und ist ein Ergebnis der Spaltung an den  kulturellen, historischen wie ideologischen Wurzeln. Eine Abrechnung, die die werktätigen Klassen, die modernen, laizistischen Gesellschaftsschichten, die alevitische Gesellschaft und die Frauen außer Acht läßt, wird die Gründe dieser Krise nicht erfassen. Die Türkei ist heute am Vorabend einer viel grundlegenderen Abrechnung als die scheinbar stattfindende Abrechnung der Machtzentren.

Zweitens wurde das türkische Kapitalismus am 15. Juli tief gespalten. Dass die zweitstärkste Armee der NATO sich fast auflöste; dass in einem Land, wo die säkularen Schichten immer noch die Mehrheit stellen die islamistischen Paarmilitärs Hand in Hand mit der Polizei die Straßen beherrschten und dass die gesamte Bürokratie sich seither im Zerfall befindet sind schwere, nicht schnell zu behebende Probleme dieses Systems.

Drittens ist die türkische Kapitalismus in einer sehr fragilen Lage, da ihr die nötigen ökonomischen Mittel zur Überwindung dieser Krise fehlen.

Viertens scheint ein Wiederaufbau der physischen Autorität nach dieser Spaltung als sehr schwierig. Wichtiger ist, dass jedweder Autorität in dieser gespaltenen Gesellschaft an Zustimmung mangeln wird

Und zuletzt scheint die Differenz zwischen imperialistischen Zentren im Westen und Ankara mit diesem Putsch den Peak erreicht zu haben. Man kann sicher davon ausgehen, dass im Falle des Erfolgs dieser Putsch die Zustimmung und Unterstützung des Westens genossen hätte.

Auf der anderen Seite ist eine Trennung des türkischen Kapitalismus aus dem westlichen Block, wenn auch zwecks Konsolidierung,  aus struktureller wie aus historischer Sicht nicht denkbar

Zusammengefaßt scheint der AKP-Erdogan-Front die Fähigkeit zu fehlen, diese Krise zu meistern. Einerseits: In dem Masse, wie die Regierung ihre reaktionäre Schergen einsetzt wird diese Krise noch größer werden. Andererseits wird der Versuch, die Krise durch eine gesellschaftliche Konsens zu überwinden wird ihr als eine Schwäche angelastet und evtl. neue Abrechnungen heraufbeschwören. Dies könnte neuen Putsch-Szenarien den nötigen Schub geben oder die Stärkung anderer Systemparteien mit sich bringen.

 

9-Entwickelt sich die Türkei unter Erdogan zu einer Islamistischen Diktatur?

Sollte die Türkei nach dem Putsch unter Erdogan in eine offene islamistisch-faschistische Diktatur abdriften, so warten auf die Türkei eine Reihe ernsthafter Konflikte.

Einer Woche nach dem Putsch sind Tendenzen zu beobachten, die in die Rubrik “Nationaler Konsens” fallen. Um offene Konflikte und Radikalisierung zu vermeiden, sieht man die Lösung in der Bildung einer Schwerkraft im politischen Zentrum. Dies aber birgt wegen aktueller Probleme in Syrien und wegen Korruptionsaffären die Gefahr einer Schieflage. Die AKP wird einerseits versuchen, die Verbindung zum polätäschen Zentrum aufrechtzuerhalten und andererseits Massnahmen ergreifen, um eigene Auflösung zu verhindern.

Es ist zu erwarten, dass die Suche nach einer solchen Gleichgewicht in der nächsten Zeit verstärkt wird.

Es ist zu beobachten, dass die parlamentarische sozialdemokratische Opposition ihre Hoffnung auf eine “Normalisierung” der AKP setzt.

Bedenkt man die guten Verbindungen der faschistischen MHP zu den Kapitalgruppen und den imperialistischen Zentren, die diese Partei der AKP immer zur Seite stand. Wenn es kritisch wird, soll man sich nicht wundern, wenn diese Partei nicht die Radikalisierung, sondern eher die Normalisierung der AKP unterstützt.

Obwohl die kurdische Opposition HDP sich nicht an dem “Nationalen Konsens” beteiligt, scheint sie weiterhin für Versöhnung offen zu sein.

Es ist wahrscheinlicher, dass auf die AKP verstärkt Druck für eine “Normalisierung” ausgeübt wird, als dass sie in eine offene islamisch-faschistische Diktatur unter Erdogan treibt. Diese “Demokratisierung” ist aber keine Alternative für die Werktätigen und die linken Kräfte.

Wir sprechen hier nicht davon, dass die Türkei nach dem Rechtsruck unter AKP ins politische Zentrum rücken wird. Wir sprechen davon, die Regierbarkeit wiederherzustellen. Hier betont die KP, dass eine Zähmung  von Erdogan nicht unbedingt progressiv ist. Wir betonen den Klassencharakter des Kampfes in dem Widerstand gegen die Entwicklung des islamistischen Faschismus.

 

10- Bietet die Türkei aktuell Möglichkeiten für die Politik der Arbeiterklasse?

Als unmittelbar nach dem Putsch Desinformation und Chaos herrschten, zog die Kommunistische Partei (Türkei) mit ihren Nachrichten und Kommentaren Aufmerksamkeit auf sich. Die KP (Türkei) versucht jetzt, diese Aufmerksamkeit schnellstens in eine Chance zur aktiven Organisierung umzuwandeln. Trotz der Repression ist es Ziel, das Organisationsniveau innerhalb der Arbeiterklasse zu erhöhen.

Auch wenn der Putsch schnell wieder vorbei war, so fand doch ein Bürgerkrieg statt. Hauptsächlich spürten die BürgerInnen in Ankara seinen zerstörerischen Charakter. Gleich danach mobilisierte Erdogan eine religiös-reaktionäre islamistisch-politische Masse und holte sie auf die Straße, um sich vor weiteren Putschversuchen zu schützen. Die Plätze wurden eine Weile von diesen reaktionären Massen besetzt. Dann gingen die systemkonformen Linken auf die Straße. Sie taten so, als ob es kein Putschversuch der USA wäre, lautete ihre Losung vielmehr „Demokratie“.

Das war traumatisch und demoralisierend für die Arbeiterklasse.

Trotz dieser negativen Umstände, sieht die KP (Türkei) revolutionäre Möglichkeiten und sucht die Bedingungen für eine Offensive mit Klassenbezug.

Es sollte nicht vergessen werden, dass ein USA-treuer Putschversuch stattgefunden hat. Denn alle politischen Akteure stehen auf der Seite der USA. Der Putschversuch wird von einer islamistichen Sekte ausgeübt, aber die Bourgeoisie kann ohne den politischen Islam nicht regieren. Erdogan kritisiert diese Sekte und beschuldigt sie des Verrats, aber sie operierten in der Vergangenheit gemeinsam. Die Okkupation des Staates durch die AKP wäre ohne die Sekte nicht möglich gewesen.

Für die Gesellschaftsordnung ist diese Masse von Widersprüchen untragbar. Der türkische Staat war noch nie so gespalten und geschwächt wie jetzt. Dazu verschärft sich die Krise immer mehr. Die Kommunistische Partei (Türkei) ist der Überzeugung: Nicht nur dieser Putschversuch, sondern auch die weltweite Krise des Kapitalismus wird der Politik der Arbeiterklasse definitiv revolutionäre Möglichkeiten bieten.